Abenteuer9 min Lesezeit
Gegen alle Konventionen
Die Story von James Wharram – ein Mann, der Katamarane liebte. Und die Frauen…
James Wharram brachte den Europäern und Amerikanern den Katamaran nach polynesischem Vorbild. Dabei hatte er immer starke Frauen an seiner Seite. Die Geschichte eines Mannes, der mit allen Konventionen brach.
Von Michael Kunst, veröffentlicht am 16.05.2023
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- Warum James Wharram ohne seine deutschen "Girls" aufgeschmissen gewesen wäre
- Ein Mann mit einer fixen Idee: Zwei Rümpfe segeln besser als einer
- Wie ein unverwechselbares Bootsdesign entstand
- Mehr als 10.000 Konstruktionsanleitungen verkauft
- Hunderte Wharram-Boote wurde im Laufe von sieben Jahrzehnten gebaut
- Immer nach dem KIS-Prinzip: Keep it simple
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„Skandal! Ein britischer Gentleman will auf einem seltsamen Boot mit zwei schmalen Rümpfen in klaustrophobischer Enge gemeinsam mit zwei deutschen Frauen über den Atlantik segeln! Wie soll das gutgehen?“
Wir schreiben den 27. September 1955, und so lächerlich sich diese Zeilen heute lesen, so einig war man sich an diesem Tag im britischen Hafen Falmouth: ein Mann, zwei Frauen wochenlang allein auf See – Sodom und Gomorrha!
Ein gewisser James Wharram hatte ohnehin schon monatelang die Gemüter der Ärmelkanal-Gemeinde erregt. Weil er mit wenig Geld, aber umso mehr Enthusiasmus und einem sicheren Händchen für den Bootsbau einen seltsamen Zweirümpfer unten am Strand baute. Ein Boot, wie man es hier noch nie zuvor gesehen hatte.
Dubiose Konstellation
Klar, man lebte schließlich nicht hinter dem Mond und hatte schon mal etwas von den „Polynesischen Doppelkanus“ gehört oder gelesen. Aber das ist doch was für den ruhigen, gemächlichen, immer sonnenbeschienenen Stillen Ozean. Und nichts für die rauen Bedingungen auf dem Atlantik!
Dieses filigrane Etwas, das im Hafen von Falmouth nun also die Leinen losmachte, konnte demnach nur zum Scheitern verurteilt sein. Ganz zu schweigen von dem seemännisch äußerst dubiosen Umstand, dass eine Frauenmehrheit an Bord herrschte. „And let's not even talk about the morally dubious constellation on board!“
Dennoch (oder gerade deswegen) berichtete nicht nur die lokale Presse über den anstehenden Törn. Sondern sogar das „Fernsehen“ war aus London angereist, um diese drei schrägen Vögel auf den ersten zu segelnden Seemeilen zu beobachten. Schließlich weiß man nie, was aus so einer Geschichte noch werden könnte…
Es wäre wirklich übertrieben, wenn man das mediale Interesse ausschließlich auf die Dreier-Konstellation an Bord der 23,6 Fuß (ca. 7 m) kurze „Tangaroa“ zurückführen würde. Denn einige der Medien waren auch oder sogar in erster Linie an dem Boot als solchem interessiert. Und dafür waren sie bei diesem James Wharram an der richtigen Adresse.
KIS-Kat-Neubau für 200 Pfund
Der junge Bootsbauer hatte sich schon während seiner Ausbildung in Katamarane verliebt. Ihn begeisterte der Törn des Franzosen Eric de Bischop, der 1936–1939 in einem „Doppelkanu“ von Honolulu nach Cannes segelte. Oder die Berichte des alten James Cook, der immer wieder die Seetüchtigkeit der teils riesigen polynesischen Auslegerkanus lobte. Boote, auf denen immerhin der gesamte Pazifikraum einst besiedelt wurde.
Wie das die meisten Bootsbauer so an sich haben: Sie wollen so schnell wie möglich auf einem „eigenen Boot“ unterwegs sein. So auch bei Wharram – Ehrensache, dass für ihn nur ein Katamaran infrage kommen konnte. Rauer Atlantik hin, Meinung der englischen Fischer und Seefahrer her.
Aus naheliegenden, finanziellen Gründen wollte sich der Brite nicht mit dem Bau eines königlichen tahitianischen Doppelkanus für 300 Personen, 100 Schweine und einer Tonne Kokosnüsse abgeben, sondern lieber etwas Bodenständiges bauen. Seine Vorbilder: die kleineren Katamarane, wie sie auf den Gesellschaftsinseln schon seit Jahrtausenden gebaut und genutzt wurden.
Letztlich musste er 200 britische Pfund „in die Hand nehmen“, um sich seinen ganz persönlichen Traum vom Zweirumpfboot zu verwirklichen.
Zwei Frauen, ein Mann
Beim Bau der „Tangaroa“ stand ihm die deutsche Ruth Merseburger zur Seite. Die junge Bibliothekarin wollte „mal an die frische Luft“ und hatte James bei einer England-Reise kennengelernt. Der vermeintliche „Bücherwurm“ war begeistert von der Seefahrt, im besonderen jedoch von den seltsamen Ideen „ihres“ James. Und sie sollte sich später als hervorragende Seefahrerin beweisen.
Irgendwann heuerte dann die erst 17-jährige, ebenfalls deutsche Jutta Schultze-Rhonhoff an. Es wurde viel darüber spekuliert, wie es zu dieser Dreier-Konstellation, die später noch über Jahre eine bleiben sollte, überhaupt. James Wharram beschrieb es einmal mit den lapidaren Worten: „Sie war plötzlich einfach da. Und wir Drei verstanden uns blendend!“
Das Trio legte also in Falmouth ab und segelte auf ihrem „engen, aber ausgesprochen schnellen Doppelkanu“ (wie eine lokale Zeitung bemerkte) ab gen Horizont. Ziel war Trinidad in der Karibik, wo die Drei nach „ein paar Wochen tollen Lebens auf See“ ankommen wollten.
Doch ganz so paradiesisch sollte der Törn nicht werden. In der Biskaya erwischte sie ein zweiwöchiger Sturm. Als sie einen Nothafen in Spanien anlaufen wollten – es waren die Damen, die gegen die Tide ruderten, James war, wie so oft auf seinen Reisen, seekrank – wären sie beinahe auf ein Riff abgetrieben worden.
Später, mitten auf dem Atlantik, brach ein Ruder. Bootsbauer Wharram bastelte stunden- und tagelang, während „die Crew“ nur auf einem Bug segelte. Dass frau dabei von der Zielrichtung mitunter deutlich abweichen musste, liegt nahe.
Ruderbruch, Holzwürmer, wenig Proviant
Kurz darauf, immer noch mitten auf dem Atlantik, begann das Boot wegen Holzwurmbefall zu lecken. Auch die Segel hielten nicht ganz so lange durch, wie vom Segelmacher versprochen. Und dass man nicht von Luft und Liebe allein leben konnte, merkten die Drei ebenfalls alsbald: Der Proviant wurde knapp, musste rationiert werden.
Doch die beiden deutschen Frauen „genossen es, das Boot in den Passatwinden, mit wehenden Haaren zu segeln!“ beschrieb James Wharram später. „Sie waren, neben dem Wind, die treibende Kraft auf dem Ozean!“
Nach sechs Wochen erreichten sie Trinidad – Ruth hatte die „Tangaroa“ punktgenau ins Ziel navigiert.
Ende gut, alles gut? Gut schon, aber noch lange nicht zu Ende! Denn „James and the two german girls“ blieben auch in der Karibik weiter zusammen. Kurz nach ihrer Ankunft in Trinidad bemerkte Jutta, dass sie schwanger war.
Sie gebar ihren Sohn Hannes in Trinidad, wo das Katamaran-Trio „erst mal bleiben“ wollte. Bevor man sich an das nächste Abenteuer wagte: Die Rückkehr nach England über den Nordatlantik.
Übrigens wurde der kleine Hannes nach dem damals berühmten Atlantikruderer Hannes Lindemann benannt, den Jutta bei einem Zwischenstopp auf den Kanaren kennengelernt hatte…
Der nächste Wharram-Kat
Da „Tangaroa“ hoffnungslos von den Würmern angenagt war, musst ein neues, vielleicht auch ein wenig größeres Boot her. Und James Wharram wäre nicht James Wharram, wenn es nicht wieder ein Katamaran sein muss, den er und seine Crew sich da erbauen. Und so zeichnete der Brite mit dem Faible für Mehrrumpfboote schon seinen zweiten Katamaran nach dem gleichen Prinzip: Keep it simple!
Beim Bau halfen auch einige Einheimische und – für die Geschichtsbücher! – Bernard Moitessier. Der war damals in der noch relativ kleinen Langfahrtszene bereits eine Berühmtheit und konnte mit seinem Bootsbau-Wissen und seinen Südsee-Erfahrungen offenbar viel zum Gelingen des Projektes beitragen.
So entstand in der Karibik die 12 Meter lange und sechs Meter breite „Rongo“. Ein Holzkatamaran, der bereits die typische Wharram-Handschrift trug, die wiederum in den darauffolgenden Jahrzehnten weltberühmt werden sollte.
Auf dem Kat segelten erneut „die Drei“ (das Kind wurde per Flieger von der Oma nach England gebracht) über den Atlantik, diesmal über die etwas weniger kommode, nördliche Route.
War es bei ihrem ersten gemeinsamen Törn Ruth, deren navigatorische Fähigkeiten sie trotz etlicher Probleme ins Ziel brachten, glänzte diesmal Jutta als Skipperin. James hatte schließlich sein gesamtes Können und Know-how in den Bootsbau eingebracht.
Tage- und nächtelang am Ruder
Gleich zu Beginn der Reise fiel ein Sturm über sie her und Jutta gab während der kritischen Phase tage- und nächtelang das Ruder nicht mehr aus der Hand „Sie war eins mit dem Boot,“ schwärmte Wharram später. „Sie stand da wie eine Offenbarung und trotzte dem Wind und der Wellen!“
Und, wie stellt man sich heute die Ankunft der Drei in Falmouth vor? Ähnlich ernüchternd wie ein Wilfried Erdmann, dem nach Vollendung seiner ersten Solo-Weltumseglung in Hamburg keiner glauben wollte?
On their contrary – die Briten feierten die Drei diesmal wie Helden angesichts ihrer tollen seglerischen Leistung. Mit einem „Doppelkanu“ zweimal über den Atlantik, das ist wahrlich reichlich Beachtung wert. Und selbst die Queen soll nicht mal mit der Augenbraue gezuckt haben, als sie von dem „wilden Trio“ auf dem seltsamen Südsee-Boot hörte.
Eigentlich sollte die Geschichte rund um das Katamaran-Trio munter so weitergehen. Die Drei plus Hannes bildeten weiter eine Familie, bauten (logisch, was sonst?) einen noch größeren Wharram-Kat für nichts Geringeres als eine Weltumseglung.
Doch zwei Jahre später starb Jutta an einer angeborenen Krankheit.
Ruth blieb noch viele Jahre bei James Wharram.
Wharram-Katamarane forever
Die Weltumseglung wurde (zunächst) ad acta gelegt. Dafür machte James nun echte Karriere als Bootskonstrukteur: Seine Wharram-Katamarane in allen nur möglichen Größen und Breiten fanden bei einem ganz bestimmten Blauwasser- und Langfahrt-Segler-Typus ihre Fans: Abenteurer, Müßiggänger mit einem Faible fürs schnelle Segeln, echte Aussteiger und überhaupt „Anderslebende“.
Mach-, bezahl-, bewohnbar sowie robust und schnell – eine Kombination, für die James Wharram und seine Risse bis heute weltberühmt sind. Ganz nach polynesischem Vorbild erfüllten alle Wharram-Kats eine Anforderung, die der Konstrukteur sich und seinen Booten stellte: Seetüchtigkeit!
Die erreichte der Brite auf denkbar einfachste Weise: Seine Katamarane hatte grundsätzlich ein offenes Brückendeck, die beiden Rümpfe werden mit Leinen, Seilen und Gurten flexibel zusammengehalten. Jeder der Wharram-Risse wurde nach dem KIS-Motto gezeichnet: Keep it simple.
Nur einfache Werkstoffe (meist Bootsbau-Sperrholz) kamen zum Einsatz, jedes Boot sollte mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis bestechen. Segel und Takelung wurden je nach Einsatzzweck und Geschmack des angehenden Eigners aufgebaut genauer gesagt gehisst.
Zunächst überwog die in Europa übliche Slup-Takelung; nach längeren Reisen in der Südsee auf seinen Wharram-Modellen, bot James ebenso die polynesische Takelung mit Großsegel an der Gaffel, jedoch ohne Baum.
Der Clou, der über Jahrzehnte einer bleiben sollte: Alle Wharram-Katamarane sind so konzipiert, dass man die Boote selbst bauen kann. Die gelieferten Bausätze kann man aber auch zu versierten Werften geben, die den Bau professionell und vergleichsweise rasch ausführen.
Ein Boot für gewisse Typen
Im Laufe seines Lebens verkaufte James Wharram über 10.000 Baupläne. Hunderte Boote wurde im Eigenbau oder von Werften gebaut. Die meisten der jemals konstruierten Wharram-Katamarane schwimmen übrigens noch. Auf der Website wharram.com werden etliche Wharram-Designs aus den letzten Jahrzehnten vorgestellt.
Später war eine andere Frau an James’ Seite zu finden: Hanneke Boon . Mit der niederländisch-britischen Bootsdesignerin (Jahrgang 1954) arbeitete James an ungezählten Booten und Rissen. Gemeinsam entwickelten sie neue Technologien im Bootsbau, unternahmen Expeditionen und segelten 1995 bis 1998 auf der 63 Fuss langen „Spirit of Gaia“ um die Welt.
Zu seinem 80. Geburtstag (2008) starteten James Wharram und Partnerin Hanneke Boon mit dem deutschen Langfahrtsegler Klaus Hympendahl das Projekt „Lapita Voyage“. Zwei Elf-Meter Katamarane wurden im bekannten Wharram-Stil gebaut und von den Philippinen bis zu den Salomon-Inseln Anuta und Tikopia gesegelt. Das Ziel: Den Beweis erbringen, dass die Besiedelung des Pazifiks von West nach Ost möglich gewesen wäre.
Die Wharram-Gemeinde lebt!
Ein 4.000 Seemeilen Törn, der es in sich hatte: Ohne moderne Hilfsmittel segelte die Crew die beiden Boote größtenteils nach alten polynesischen Navigations-Überlieferungen in die Südsee und überließ die Wharram-Kats schließlich den Einheimischen. Eine verbindende Geste zwischen den wahren Erfindern des Katamarans und dem Mann, der die polynesische Kunst des Bootsbaus und Segelns in unsere Welt brachte.
Im Winter 2021 starb James Wharram. Der Freigeist, Abenteurer, geniale Bootsbauer und Mann, der mit so ziemlich allen Konventionen in seinem Leben gebrochen hat, wurde biblische 93 Jahre alt. Bis zuletzt bewahrte er sich seinen entspannten Lebensstil und pfiff auf alles, was ihn einzuengen drohte.
Doch die Wharram-Gemeinde lebt! Immer wieder zieht es junge wie etwas betagtere Abenteuerlustige auf Wharram-Booten hinaus auf See. Mittlerweile gibt es unzählige Videos und Reiseberichte von skurril bis atemberaubenden Törns auf Wharram-Katamaranen.
So etwas wie ein junger Star in der Wharram-Gemeinde ist Kiana Weltzien. Die heute 30-jährige US-Amerikanerin hatte ihren Wharram 2018 in Panama bei einer „Nacht-und-Nebel-Aktion per Telefon“ erworben. Der 41-Fuß-Sperrholzkat Narai Mara Noka aus dem Jahr 1974 ist einer der ältesten Wharrams, die noch unterwegs sind.
Nach so etwas wie einer „notdürftigen Überholung“ ihres Katamarans schaffte es die Seglerin immerhin zu pandemischen Zeiten zweimal über den Atlantik. Sie engagiert sich derzeit (von ihrem Wharram aus) für den Meeresschutz und dreht gemeinsam mit Freundinnen und Mitseglerinnen Dokumentarfilme, die die Meeresverschmutzung anprangern.