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Das Ei des Ole Brude
Zu viert auf 13 qm Fläche über den Atlantik. Warum tut man(n) sich das an?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die Ära der großen Liniendampfer – aus Stahl. Doch die Rettungsboote waren aus Holz. „Ein Widerspruch“ meinte der junge Norweger Ole Brude und machte sich ans Erfinden. Heraus kam ein Abenteuer, das Geschichte schrieb, aber lange in Vergessenheit geriet.
veröffentlicht am 01.02.2024
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- Warum Ole Brude ein neuartiges Rettungsboot konstruieren wollte
- Wie der Norweger die Effizienz seines Risses aller Welt beweisen wollte
- Warum das Brudeegget ein genialer Riss war
- Wie man die Seetüchtigkeit eines neuen Rettungsbootes am besten bewies
- Wie vier Männer auf 13 qm Fläche 152 Tage auf See überleben
- Ist ein Ei besser als ein Verdränger-Bug?
- Warum der lange Törn über den Nordatlantik nur ein Abenteuer war
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Es war bei einem dieser furchtbaren Winterstürme, die bevorzugt in der Nordsee wüten, als Ole im gewissen Sinne ein Licht, genauer genommen ein Ei aufging.
Der Norweger Ole Brude hatte im zarten Alter von 16 Jahren als Schiffsmaat auf einem Dampfer angeheuert – ein typisches Los auf dem Wasser, an dem man als gebürtiger Ålesunder kaum vorbei kam.
Wir schreiben das Jahr 1898. Zwei Jahre ackerte er nun schon auf dem Schiff, obwohl sich Ole eigentlich zu Höherem berufen fühlte. Ingenieur, Abenteurer, Erfinder oder noch besser alles zusammen, das wäre es gewesen.
In erwähntem Sturm machte Ole Brude also eine Erfahrung, die sein restliches Leben prägen sollte. Er erlebte, wie eines der damals üblichen, hölzernen Rettungsboote im Seegang gegen die Bordwand des Dampfers krachte und dort zerschellte. Ole fragte sich, wie in derart fragilen Nachen Menschen überleben sollen? Was machen wohl die Wellen aus den vorerst Geretteten einer Schiffskatastrophe, wenn sie den Elementen in derart zerbrechlichen, offenen Nussschalen ausgesetzt sind?
Sicherheit an Bord?
Ende des vorletzten und Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatte die Sicherheit an Bord von kleinen Booten oder riesigen Ozean-Linern nur selten bis gar nicht Vorrang.
Dass Schiffe sinken können, war zwar allen Seefahrern im Tiefschnee ihrer Herzen klar.
Doch wollte man derart Unschönes in diesen technikverliebten Zeiten nicht unbedingt wahrhaben.
So entsprach etwa die Anzahl Plätze in den Rettungsbooten nie der Anzahl Personen an Bord. Vorschriften gab es bisher nicht, höchstens Empfehlungen. Die wiederum nur für neu gebaute Schiffe ausgesprochen wurden.
Ein Ei aus Stahl
Zurück zu Ole. Zwar kam es an Bord „seines“ Dampfers zu keiner Katastrophe im Sturm. Doch der Anblick, wie im Sturm übliche, haushohe Wellen Kleinholz aus dem Rettungsboot gemacht hatten, ließ ihn nicht los.
Fortan grübelte und zeichnete er an Alternativen für Rettungsboote herkömmlicher Art. Er skizzierte neue Bootsformen, die anfangs noch zögerlich, später deutlich abgerundeter waren als bisherige Modelle. Ole machte Vorschläge für die Verwendung anderer Holzarten zum Bau des Rumpfes, war (zunächst) aber immer wieder ans Herkömmliche gebunden: Kleine, offene Boote, deren Kampf mit den Elementen schon von vornherein aussichtslos sein würden.
1903 gab er schließlich der „mechanischen Werkstatt Alesund“ den Auftrag, ein Rettungsboot zu bauen, das alles bisher Dagewesene regelrecht auf den Kopf stellen sollte: ein Boot, rundum aus Stahl. Rundum? Genau – das Design des Ole’schen Rettungsbootes glich einem Ei, der Urform par excellence.
Im gewissen, maritimen Sinne war dies zwar nicht das „Ei des Kolumbus“, aber immerhin ein Brudeegget, das „Ei des Brude“.
Ziemlich schlechtes Omen
Ob der Bau dieses ersten Rettungsbootes aus Stahl tatsächlich unter einem guten Stern stand, lässt sich zumindest anzweifeln. Denn im Jahre 1904 brannte Ålesund nieder, nahezu alle Häuser waren zerstört; Werkstätten, Läden und natürlich auch Werften wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nur die „mechanische Werkstatt Ålesund“ war relativ schnell wieder einsatzbereit.
Ole schaffte es, dem Bau seines Rettungsbootes oberste Priorität zu verschaffen. Seine (für ihn schlüssige) Argumentation: Er wollte seine Erfindung bei der Weltausstellung in St. Louis/USA weltweit medienwirksam präsentieren, wo übrigens auch die Olympischen Spiele 1904 stattfanden.
Die Hoffnung des Werft- bzw. Werkstattleiters: Frankreich und ein vermögender Amerikaner hatten eine Prämie über eine Million Francs ausgelobt für den Bau eines „revolutionär neuen Rettungsbootes“. Nur mit einem Sieg bei diesem Wettbewerb wäre Ole wohl imstande gewesen, nach einer kleinen Anzahlung den Großteil der Baukosten überhaupt zu bezahlen.
Doch die großzügige Ausschreibung hatte für Ole Brude einen sperrigen Haken. Das jeweilige Modell des Rettungsbootes sollte zwingend bis zum Ende der Olympischen Spiele, also Ende November 1904 in St. Louis angekommen sein. In Zeiten, als es noch keine Antonow-Transportflugzeuge fürs Grobe gab, eine ziemlich knifflige Aufgabe, wenn man nur noch ein halbes Jahr Zeit für die Anreise hat. Und der Transport des eisernen Eis auf einem der großen Transat-Dampfer aus finanziellen Gründen undenkbar war.
Aufmerksamkeit erregen
Allerdings ging Ole Brug bereits seit Monaten mit einer außergewöhnlichen, PR-trächtigen Idee „schwanger“. Er wollte nichts Geringeres, als die absolute Seetüchtigkeit seines „Rettungs-Ei“ mit einer Atlantik-Überquerung beweisen. Gemeinsam mit drei weiteren Seeleuten, darunter zwei ausgebildete und erfahrene Steuermänner, wollte er mal eben schnell auf der Nordroute von Norwegen zur nordamerikanischen Ostküste segeln. Von dort aus wäre es möglich gewesen, über den St. Lorenz-Seeweg, also auf Flüssen und erst kürzlich fertiggestellten Kanälen bis nach St. Louis zu gelangen.
Wohlgemerkt, das Brudeegget hatte bisher nicht eine einzige Seemeile im Wasser zurückgelegt. Anfang Juni 1904 war es vom Stapel gelaufen, hatte in der Lokalpresse ein gewisses Aufsehen erregt und Schiffsingenieure aus Oslo hatten Ole Brude eine gewisse Chance bestätigt, die ausgelobte Prämie zu gewinnen.
Es war dann wohl ein großzügiger Anteil an der angepeilten Million Francs, der die drei Mitsegler überhaupt dazu bewegte, an dem Abenteuer teilzunehmen. Sogar als Ole Brude sein Ei „uræd“ taufte – furchtlos – machten weder Karl Johansen, Lars Madsen noch Iver Thoresen einen Rückzieher.
Furchtlos ins Ei
Apropos „ohne Angst“. Spätestens beim Anblick des eiförmigen Rettungsbootes mit dem dubiosen Namen hätte sich bei erfahrenen Seeleuten eine gewisse Skepsis regen sollen. Oder waren sie tatsächlich vom Sicherheitsprinzip dieses ungewöhnlichen Bootes überzeugt?
Fünfeinhalb Meter kurz, rundum aus dicken Stahlplatten gebaut, Schiffs-mittig zweieinhalb Meter hoch, ein Ausguck, zwei Einstiegsluken, Schwenkkiel, Ruder, Mast und ein Großsegel, gaffelgetakelt … 13 Quadratmeter Fläche, die vier ausgewachsene Männer wochenlang auf dem Atlantik bewohnen wollten. Ganz zu schweigen von der bisher nicht erprobten See- und Segelleistung des Eis. Alles war, gelinde gesagt, ein Vabanquespiel.
Doch egal, Abenteuer und Geld lockten und am 27. Juli 1904 legte die Uræd in Ålesund ab und segelte Richtung Westen, um acht Stunden später wieder am gleichen Steg anzulegen. Wasser drang durch die Schweißnähte ins Boot – Oles Rettungs-Ei war nicht dicht!
Nach hektischer Reparatur durch die peinlich berührte Werft ging es dann am 7. August tatsächlich los. In der Zwischenzeit hatte Ole Brude nochmals den für eine Transat nötigen Proviant überschlagen und fügte sicherheitshalber noch ein paar Kilogramm Proviant hinzu. Letztlich lagerten über vierhundert Kilogramm Brot, ein halber Zentner Mehl, sieben Zentner Kartoffeln, ein Zentner Zucker, fünf Kilo Kakao und zweitausend Liter Süßwasser auf dem Boden des Eis. Stehhöhe? Pustekuchen! Dafür lag der Schwerpunkt des Bootes tief, sodass die Rollbewegungen im Seegang zumindest deutlich geringer gewesen sind, als mit weniger Gewicht.
Nicht unbedingt gemütlich
Schon vier Tage später erreichten sie die Shetlandinseln, wo ein kurzer Zwischenstopp eingelegt wurde. Letzte Chance, das Boot zu verlassen – alle blieben. Trotz Seekrankheit, trotz erster, höchst ungemütlicher Erkenntnisse an Bord.
Versetzen wir uns kurz ins Innere der Uræd. Selbst bei moderatem Seegang war das Ei immer in krängender Bewegung. Die Luken konnten nur geöffnet werden, wenn keine Gefahr bestand, dass Wasser ins Boot eindringt – also eher selten! Die Uræd war mittlerweile dicht, aber nicht isoliert! Somit war Kondenswasser der Feind Nummer Eins unter Deck: Nach wenigen Tagen war sämtliche Kleidung klamm, schließlich klatschnass.
Aufgrund der späten Abfahrt mussten die Vier mit schweren Herbststürmen auf ihrer Route rechnen. Die nach zwei eher beschaulichen, ersten Wochen dann wortwörtlich über sie hereinbrachen. Alles musste verbarrikadiert werden, tage und nächtelang war es unmöglich, auch nur eine Luke zu öffnen.
Olfaktorisch infernalisch!
Wer derartiges Wetter jemals in einer relativ kleinen, modernen und somit vergleichsweise komfortablen Segelyacht unter Deck erlebt hat, der ahnt, unter welchen Bedingungen die vier Helden in ihrem Rettungsboot ausharren mussten. Die Männer litten reihum unter Durchfall und Seekrankheit; ein Eimer für die Notdurft, ein weiterer für Erbrochenes, allein der Gestank unter Deck muss infernalisch gewesen sein. Der Lärm durch den Wellenschlag an der Bordwand … mörderisch.
Auf jeden Sturm folgt bekanntlich eine mehr oder weniger lange, ruhige Phase. Dann tummelten sich Delfine rund ums Ei, die Männer konnten sich auf dem Boot auslüften, angeln und entsprechend ihr Menü anreichern.
Dann wieder ein Sturm, besonders heftig. Am 2. Oktober brach der Mast, das Ei trieb mit dem Wind und der Strömung hoffnungslos zurück. Als Ole Brode nach Wetterberuhigung einen Ersatzmast aufrichten wollte, verlor er auf der krängenden Uræd das Gleichgewicht und stürzte in den Ozean. Furcht- nein: Schrecksekunden vergingen mit Gebrüll, Auswerfen einer Leine, an der sich Ole im letzten Moment festhalten konnte. Dann wurde der „Kapitän“ durch die enge Luke zurück ins Ei, in den Uterus seines Abenteuers gezerrt.
Nur wenig daneben
Bis dato war offenbar – wie später berichtet wurde – Thoresen die treibende Kraft des Unternehmens. Zwar hatte Brode die Idee und initiierte die Reise, Thoresen nahm allerdings das Heft respektive den Sextanten und meistens auch das Ruder in die Hand. Er sorgte, wenn wetterbedingt möglich, für die richtige Richtung. Am 15. November lief das Brudeegget in Petty Harbour auf Neufundland ein. Eigentlich wollte Thoresen ja in St. John’s anlanden, aber was sind schon 20 Kilometer Verpeilung nach so einem Törn.
Vielleicht hatte er sich aber auch einfach verrechnet, als er Tage zuvor schwer halluzinierte. Oder als er von einem völlig abgetretenen Ole Brud mit einer Pistole – von dessen Existenz an Bord keiner der drei Mitsegler etwas wusste – angeblich scherzhaft bedroht wurde. Wissenschaftler vermuteten später, dass die Crew zeitweise unter einer Blei- oder Quecksilbervergiftung gelitten haben muss.
Wal oder Boot?
Die Ankunft des Brudeegget auf Neufundland wurde reichlich gefeiert. Hatten Fischer vor den Shetlandinseln beim Anblick des seltsamen Bootes zunächst noch vermutet, es handle sich um einen Wal, aus dem eine Harpune heraus ragt, war man hier längst über den seltsamen Törn des Brudeegget und seiner vier Helden informiert.
Doch nicht allen war zum Feiern zumute. Ole Brude wurde spätestens jetzt klar, dass er es nicht nach St. Louis schaffen würde. Trotzig hielt er jedoch an der Idee fest, der Welt zu zeigen, dass sein Brudeegget unter allen Seefahrtbedingungen Menschenleben retten kann.
Wenn er es schon nicht zur Weltausstellung oder zu den Olympischen Spielen schaffte, dann eben nach New York – dem Nabel der damaligen Welt. Und wieder machten seine Kumpane mit, obwohl die angepeilte, monetäre Heuer längst in unerreichbare Ferne gerückt war.
Bei der Fahrt entlang der kanadischen und US-amerikanischen Ostküste sollte es allerdings noch schlimmer kommen als bei ihrer Atlantiküberquerung. Es wurde schnell Winter und somit bitterkalt. Das Boot musste jeden Tag enteist werden, Wind und Strom ließen sie nur schleppend vorankommen.
An Weihnachten waren sie noch 300 Seemeilen von New York entfernt. Aufgrund der Vereisungen an den Schweißnähten gelangte immer mehr Wasser ins Boot. Zudem setzten Kälte, Ungewissheit, die permanenten Rollbewegungen und der ewig andauernde Lärm der Wellen den Männern mental schwer zu.
Auf Höhe Boston waren sie am Ende. Nichts ging mehr, lieber jetzt als nachher alles hinter sich lassen. Alle Vier waren jedoch erfahren genug, um zu wissen, dass in solchen Situationen beten nur wenig hilft. Oder doch?
Wie durch ein Wunder trafen sie auf einen Hamburger Frachter, der ihre Route kreuzte. Dessen Kapitän wollte nach gutem Seemannsbrauch gerne helfen und die Männer abbergen. Doch das Brudeegget konnte oder wollte er nicht an Bord hieven.
Konsequenz: Wie selbstverständlich blieben alle vier Abenteurer auf ihrem Ei.
Kiel hoch – gestrandet
Am 6. Januar 1905 landeten sie schließlich am äußersten Ende ihrer Kräfte in der Nähe von Gloucester, Massachusetts im buchstäblichen Sinne wie Schiffbrüchige. Ganz wie Brude es mit seiner Konstruktion vorgesehen hatte, schwenkten sie in der Brandung den Kiel hoch und das Rettungsboot glitt sanft auf den Sandstrand.
Nach einer unglaublich mutigen, aber auch waghalsigen Fahrt über den Atlantik, nach 152 Tagen zu Viert auf 13,5 qm Fläche eingezwängt in einem fünfeinhalb Meter kurzen Boot, den Elementen ausgesetzt, waren sie zwar am Leben. Doch letztlich schien alles umsonst gewesen zu sein.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn das Abenteuer ein Jahr früher begonnen hätte und die vier tatsächlich St. Louis erreicht hätten. Denn kann es einen besseren Beweis für die Seetüchtigkeit eines Rettungsbootes geben, als der Törn des Brudeegget?
Das „Ende vom Lied“: Niemand interessierte sich ernsthaft für diese neue Form der Rettung von Schiffbrüchigen. Was nach übereinstimmender Meinung heutiger Historiker an den hohen Kosten gelegen haben mag. Rettungsboote aus Holz kosteten damals gerade 100 norwegische Kronen; eines aus Stahl wäre auf den zwanzigfachen Wert gekommen.
Alles umsonst?
Erst 1914, nach dem Untergang der Titanic im Jahre 1912, gab es das erste internationale Abkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See.
Heute sind alle Rettungsboote aus Stahl und hermetisch geschlossen. Mit der Ei-Form des Brudeegget konnte sich jedoch kein Boots- oder Schiffskonstrukteur anfreunden. Auch wenn Thoresen und Brude in ihren Logbüchern und Berichten von der Seegängigkeit des Eis geschwärmt hatten, vom Eintauchen des Bootes in die Wellen und den akzeptablen Segeleigenschaften.
Ole Brude, Karl Johansen, Lars Madsen und Iver Thoresen hatten nach ihrem Abenteuer kaum noch Kontakt untereinander. Von Ole Brude, dem genialen Erfinder des Brudeegget, ist bekannt, dass er in den USA blieb und Farmer wurde. Später betrieb er eine Sägerei.
In Ålesund kann in einem kleinen Museum eines der wenigen, jemals gebauten Rettungs-Eier bestaunt werden.