Motoren und Technik9 min Lesezeit
Die V-Frage
Die sogenannte „Aufkimmung“ entscheidet über Gleitfahrt und Seegängigkeit
Seitdem es leistungsstarke Motoren, also schnelle Motorboote gibt, sind bei der Rumpfform zwei widersprüchliche Eigenschaften in Einklang zu bringen. Der flache Bootsboden hilft dem Boot rasch auf seine Bugwelle und zur widerstandsarm schnellen Gleitfahrt. Die ausgeprägte V-Form dagegen erlaubt den schnellen Ritt in bewegtem Wasser.
Von Erdmann Braschos, veröffentlicht am 09.02.2016, aktualisiert am 15.10.2024
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- Einblicke in die Finessen schneller Motoryachten
- mit welcher Aufkimmung was erreicht wird
- welche Vorläufer es gibt
- Prototyp der Vierzigerjahre
- Durchbruch in den Sechzigerjahren
- wo die Limits bei den V-förmig geneigten Bootsböden sind
- welche Kompromisse möglich sind
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Die sogenannte Aufkimmung ist zunächst nur eine Zahl, ein unscheinbares, allerdings aufschlussreiches Detail der Spezifikation von Motoryachten. Ganz gleich, ob neu oder gebraucht: wenn Sie sich für ein bestimmtes Modell interessieren, lohnt in dieser Hinsicht ein genauer Blick auf die Bootsdaten. Die Aufkimmung sollte im Prospekts stehen. Beim Gebrauchtboot finden Sie diese Information auf der Website der Hersteller, und zwar hoffentlich im Archiv oder in der Rubrik frühere Modelle. Wenn nicht, so erkundigen Sie sich bei der Werft nach diesem aufschlussreichen Detail.
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Seitdem es leistungsstarke Motoren, also schnelle Motorboote gibt, muss der Rumpf zwei widersprüchliche Erwartungen erfüllen. Der flache Bootsboden hilft dem Boot rasch auf seine Bugwelle und erleichtert so die widerstandsarm schnelle Gleitfahrt. Die ausgeprägte V-Form benötigt mehr PS und gleitet später, erlaubt dafür den schnellen Ritt durch bewegtes Wasser. Beides zugleich geht schlecht. Es gilt einen durchdachten Kompromiss, eine Antwort auf die V-Frage zu finden.
Die sogenannte Aufkimmung des Rumpfes - gemeint ist der Winkel des Bootsbodens zwischen Kiel und Bordwand zur Horizontalen – ist immer ein Kompromiss aus Wirtschaftlichkeit, Komfort und Sicherheit. Bei einer Sonderanfertigung lässt sich die Aufkimmung auf die üblichen Wellen des Gewässers, Geschwindigkeitsvorgaben und den Geldbeutel des Eigners abstimmen. Ein ausgeprägtes V verlangt mehr Power, also eine größere und entsprechend durstigere Maschine als ein flacher Bootsboden. Serienboote sind in dieser Hinsicht Allrounder. Mit wenig Aufkimmung in Gestalt eines ausladenden V tun Sie sich in einem ungeschützten Gewässer mit viel Wind und Gezeitenströmung jedoch keinen Gefallen. Anders sieht es auf einem ringsum geschützten Binnengewässer aus, der überwiegend spiegelglatt ist und wo der Weg zum nächsten schützenden Hafen kurz ist.
Als der monegassische Yachtentwickler Wally mit seiner markanten Motoryachtlinie namens «WallyTender» und der 36 Meter langen Hochgeschwindigkeits-Motoryacht «WallyPower 118» begann, holte Spezialist Patrick Banfield von Allseas Yachts Design das altbekannte Wavepiercer-Konzept aus der Schublade.
Die bewährte Form der Verdränger durchschneidet vorn das Wasser mit einer möglichst widerstandsarmen Form. In der Pionierphase des Dampfyachtbaus setzte man auf schmale, lange Rümpfe mit mittig angeordneten Motoren. Es waren zunächst reine Verdränger, die von wachsender Motorleistung allmählich aus dem Wasser geschoben wurden. Sie hießen treffend «Hydroplanes». Deren schmaler Wassereintritt der Bugpartie zerschnitt das Wasser mehr, als er das Boot aus dem Wasser hob. Die längst übliche Gleitfahrt heutiger Boote war damals noch Zukunftsmusik.
Auch die Commuter, mit denen New Yorker Geschäftsleute die langen Strecken von ihren Residenzen auf Long Island nach Manhattan zum Büro und abends zurück absolvierten, hatten solche schlanken Bootskörper. Im Verdrängermodus ist die Rumpflänge das Maß aller Dinge. Sie limitiert die maximale Geschwindigkeit.
Deren senkrechte Vorsteven streckten mit der Wasserlinie die Geschwindigkeit in Verdrängerfahrt und durchschnitten die Wellen. Erst die Commuter der Dreißigerjahre mit leistungsfähigen und deutlich leichteren Benzin- und Dieselmotoren waren Gleiter. Vorreiter war die 12 m lange «Maple Leaf IV». Von einer 800 PS Maschine angetrieben erreichte sie damals schon beeindruckende 50 Knoten. Die Rümpfe dieser Motorbootgeneration hatten noch keine Spritzwasser abweisend Kimmkante vorn. Sie waren Rundspanter und rollten im Seegang entsetzlich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubten leistungsfähige, relativ leichte und zunehmend erschwingliche Benzin- und Dieselmotoren die Entwicklung vergleichsweise kurzer und breiter, früh und voll gleitender Motorboote. Sie hatten wannenförmige Rümpfe hinter einem deutlich geneigten Vorsteven. Die Motoryacht hatte ihr bis heute beliebtes und sprichwörtlich eingefahrenes Design gefunden.
Die sogenannte Hunt-Form als Meilenstein
1946 entwickelte der amerikanische Bootskonstrukteur Charles Raymond Hunt einen Motorbootrumpf mit großer Aufkimmung vorn. Hunt verdiente damals mit dem Lobsterfang in seiner Heimat nebenher gutes Geld und benötigte ein rauhwassertaugliches Boot, um die Strecken zu und von den Bojen schnell zu absolvieren. Das Boot hatte ein fülliges Vorschiff über einer V-förmigen Unterwasserschiffspartie vorn, die zum sehr flachen Heck überging. Hier drehte die Schraube unter dem Heck mit nahezu Null Aufkimmung, was den Tiefgang achtern klein hielt. Sie saß hinter einem Kiel, der der Kursstabilität zugutekam und zugleich die Schraube schützte. Das flache Heck bot eine kippsichere Schwimmlage und reichlich Auftrieb zum Hantieren mit den schweren Lobsterkörben und Lagern des Fangs. Das Boot hatte eine bereits im Vorschiff beginnende Falz, eine mittschiffs bis achtern markante Kimmkante am Übergang vom Bootsboden zur Bordwandseite. Sie ließ das Boot ruhig im Wasser liegen.
Bereits 1949 entwarf er den Kabinenkreuzer «Sea Blitz» passend zur 1.500 PS starken Packard Maschine eines Küstenwachbootes. «Sea Blitz» war eher als Gleiter ausgelegt, somit breiter. Die Kimmkante, gemeint ist der Übergang vom Bootsboden zu den Bordwandseiten, war vorn weit angehoben und endete achtern deutlich unter der Wasserlinie. Mit diesem Boot machte sich Hunt den Spaß, bei Demofahrten bei schwierigen bis gefährlichen Bedingungen von achtern kommenden Seegangs das Steuer loszulassen, was üblicherweise zum Ausscheren bis zum Querschlagen des Bootes führt.
Aufkimmung mit oder ohne Twist im Bootsboden?
Hunt variierte im Laufe der Jahre die V-förmige Rumpfform mit nach achtern gezogener Aufkimmung mit zahlreichen Modellen. Der jeweilige Auftrieb der Vor- und Achterschiffspartie wurde genau austariert. Hunt versuchte, die wasserbenetzte Fläche mit sogenannten Liftstrips, zusätzlich unter dem Bootsboden angebrachten Latten, zu verringern. Mal wand er den Bootsboden, mal zugunsten der Rauwassereigenschaften bei hohen Geschwindigkeiten bewusst nicht. Bei seinen hochseetauglichen Speedbooten zog er die Aufkimmung von vorn bis zur Abrisskante am Heck mit einheitlicher 24 Grad Neigung durch.
Die scharf geschnittene, dabei möglichst flach gehaltene Bugpartie ohne sogenannten Vorfuß sorgte für ein weiches Einsetzen ohne die Neigung den Bug ausscheren und das Boot querschlagen zu lassen. Die Spurtreue ist bei querlaufendem Seegang und der Passage einer schmalen Hafeneinfahrt bei Seegang wichtig.
Der achtern flach auslaufende Bootsboden kommt der Gleitfähigkeit des Bootes zugute. Hier ist der Reibungswiderstand des Rumpfes geringer als beim einheitlich tiefen, von vorn bis achtern gleichmäßig durchgezogenen V. Nachteilig beim gekrümmten Bootsboden ist, dass sich das Heck eher festsaugt und das Boot zum Gieren neigt. Daher wird das Heck bei gewundenen Bootsböden für sehr hohe Geschwindigkeiten mit zusätzlichen keinen Flossen stabilisiert.
Der Vorteil des unverwundenen Bootsbodens mit einheitlicher Aufkimmung ist, dass das durchgängig tiefe V wie ein Kiel funktioniert, was das Boot besser geradeaus laufen lässt. Dies erleichtert das Steuern und trägt zur Sicherheit bei unangenehm mitlaufender Welle bei. Generell limitiert der gewundene Bootsboden jedoch die Geschwindigkeit. Übermotorisierte, klassische Lobsterboote können bei Vollgas aus der Spur kommen.
Im Sommer 1958 führt der Konstrukteur seine Hunt-Form bei einer Regatta zur Auswahl des America’s Cup Verteidigers bei einem deftigen Südostwind mit entsprechendem Seegang vor. Hunt prescht mit seinem 7-Meter-Flitzer mit beeindruckendem Tempo über Wellenberge und -täler. Dick Bertram beobachtet die Roadshow beeindruckt und bestellt am selben Tag ein 9 ½ Meter Boot mit der sogenannten Hunt-Form.
Härtetest beim Miami-Nassau Rennen
1960 schreibt Bertram mit „Moppie“ beim 160 Meilen Rennen von Miami nach Nassau auf den Bahamas Motorbootgeschichte. Die Strecke ist aus guten Gründen gefürchtet. Sie ist von Golfstrom durchströmt und bei bestimmten Bedingungen gewissermaßen Wildwasser, ein Härtetest für Mensch und Material. Hier schlagen Rümpfe, knacken Stringer, knistern Spanten und reißt es Tanks und Motorfundamente vom Sockel. Bertram beendet das Rennen nicht mit einigen Stunden Vorsprung. Er ist einen Tag vorher da. Seitdem ist die sogenannte Hunt-Form mit dem tiefen V weithin bekannt und Bertram volle Auftragsbücher.
Ende des 20. Jahrhunderts erinnert man sich beim Bau mehrrümpfiger Schnellfähren an die Vorzüge schnittig schlanker Vorschiffspartien, deren Bug ankommende Wellenberge durchschneidet und dessen dosierte Volumenzunahme zur Bootsmitte hin deutlich angenehmere Bewegungen in der offenen See bietet.
Wasser ist achthundertmal dichter als Luft
Diese Vorteile nutzt die im Jahr 2000 von Banfield für Wally entwickelte, seitdem weltweit nachgeahmte moderne Motoryachtlinie. Abgesehen vom markanten Look bietet der senkrechte Steven einen frühen und dank seiner V-Form weichen Kontakt mit der entgegenkommenden Welle. Das ist bei schneller Fahrt wichtig, weil Boot und Besatzung sonst enormen Schlägen ausgesetzt sind. Wasser hat zwar bekanntlich keine Balken, ist aber achthundertmal dichter als Luft. Das geht mit zunehmendem Tempo ins Gebälk und die Knochen.
Denn Aufgabe bei der «WallyPower» war, dass sie auch bei ¾ Gas und etwa 50 Knoten noch mit erträglich weichen Bewegungen bei Seegang, mit eineinhalb Meter hohem Seegang durch die Wellen fährt. Die Vorschiffspartie und auch die Anordnung der die Rollbewegung stabilisierenden, zugleich Spritzwasser abweisenden Kimmkante wurde vorab im SSPA-Schlepptank der Göteborger Chalmers Universität untersucht. Bei günstigen Bedingungen schaffte das 35 Millionen Dollar Gefährt die Strecke Monaco – Portofino in eineinhalb Stunden. Das Boot wurde zu einer Ikone im Yachtbau.
Als Banfield und sein Kollege John Wilshire später die neue Fjord-Motorbootlinie im Wally-Look entwickelten, gaben sie ihrer Kreation ein Längen-Breitenverhältnis von 3:1, weil «ein breites Boot mehr Zuladung verträgt». Banfield berichtet von einem gemäßigten V im vorderen Unterwasserschiff, das schnell flach wird und ergänzt: «Der V-förmige Bootsboden ist nur eines von weiteren Kriterien wie dem Längen-Breiten Verhältnis und wasserbenetzten Fläche, die zusammen dann einen überzeugenden Allrounder ergeben. Mit der neuen Fjord-Linie sollte ein Boot entstehen, das zwar 40 bis 50 Knoten Spitzengeschwindigkeit erreicht. Entscheidend aber war, dass es bei einer Reisegeschwindigkeit von 25, 28 oder 30 Knoten in glattem Wasser überzeugt. Entsprechend gründlich wurde über den Kompromiss hinsichtlich der Aufkimmung nachgedacht.
Nun gibt es außer dem wellenschneidend senkrechten Vorsteven einen weiteren Trick. Man kann dem Boot vorn ein Rauhwasser-tauglich V-förmiges Vorschiff geben und die Aufkimmung nach achtern hin flacher auslaufen lassen, indem man den Bootsboden verdreht. Das wird wie beschrieben innerhalb gewisser Limits schon länger auch gemacht.
Leider gibt es für den sogenannten Twist jedoch aus einem speziellen Grund Grenzen, wie Schiffbau-Ingenieur Matthias Bröker vom renommierten Konstruktionsbüro Judel/Vrolijk & Co. erklärt: «Hat das Boot mit einem scharf geschnittenem Vorschiff und flacher Heckpartie vorn wenig und hinten viel Volumen, werden Kurvenfahrten gefährlich. Es stoppt abrupt und stolpert regelrecht über seinen scharfen Bug». Deshalb sind auch moderne Motorboote mit senkrechtem Vorsteven alle mit einem moderaten Twist unterwegs.
«Auch bei der Formgebung von Motoryachten gilt: Nichts ist umsonst. „Als Konstrukteure überlegen wir uns genau, welche Vorteile es für welchen Preis gibt. Deshalb erhielt die 47 Fuß lange «Feara» im Retrostil für den schnellen Ritt von Saint Tropez nach Sardinien oder Elba zugunsten der Seegängigkeit insgesamt eine große Aufkimmung. Der mit 2 × 720 PS kräftig motorisierte Lütje-Werftbau ist mit einem tiefen Vorfuß unterwegs und erreicht bis zu 38 kn Spitze. Mit einer flacheren Aufkimmung wäre die Yacht deutlich schneller geworden.“
Alles geht nicht. Deshalb muss sich der Motorbootfahrer entscheiden. Möchte er in glattem Wasser mit wenig Aufkimmung sehr schnell fahren oder ein Rauhwasser-taugliches Boot, dessen V-förmiger Rumpf bei passablem Tempo Wellen gut wegsteckt? Es lohnt sich auch beim Gebrauchtbootkauf, auf diesen Gesichtspunkt zu achten.
Wissenswert
Bei einem Rauwasserschiff kann die Aufkimmung vorn bis zu 60 Grad sein. Üblich sind 20 - 30 Grad. Achtern sind moderate 10 - 15 Grad üblich, 20 - 25 Grad Aufkimmung eines Rauwasserbootes am Heck sind viel. Spezialisten wie das heute noch existierende Konstruktionsbüro Ray Hunt Design legen die Winkel vorn, mittschiffs und achtern je nach Revier und Geschwindigkeit genau fest.
Bezüglich der Gleiteigenschaften und der Rauhwasser-Tauglichkeit des Bootes im realen, also beladenen Zustand, mit vollen bis halb vollen Tanks, sollten Sie sich bei einem Eigner eines bestimmten Modells erkundigen. Weil die Aufkimmung leider nur eine von vielen Zahlen und mehreren Gesichtspunkten ist, sollten Sie das Boot darüber hinaus unbedingt Probe fahren. Auch das tatsächliche und weniger das optimistische Werft- und Prospektgewicht, die Motorisierung und Ausstattung (mit gewichtigen Extras) entscheiden über die Fahrleistungen und Eigenschaften. Idealerweise testen Sie das Boot bei Verhältnissen (Seegang), wie sie im künftigen Revier Ihres Bootes üblich sind.