Umwelt- und Meeresschutz7 min Lesezeit
Die Plastikflut – eindämmen, einsammeln, recyceln
Ocean CleanUp und der junge Gründer Boyan Slat werden gefeiert und … kritisiert.
Die Plastikflut in den Ozeanen geht uns alle an. Doch wie soll man diese scheinbar nie versiegende Müllmenge von Abermillionen Tonnen Plastik jährlich eindämmen? „Mit Barrieren im Ozean und in den Flüssen“ meint Boyan Slat. Teil 2 zum Boat24-Thema Plastik.
Von Michael Kunst, veröffentlicht am 24.12.2024
Das erwartet Sie in diesem Artikel
- Ocean CleanUp – kurzer Abriss einer Initiative zur Säuberung der Meere und Flüsse
- Kann man eine Plastikflut eindämmen?
- Woher kommt das Geld?
- Warum polarisiert Ocean CleanUp?
- Kann man überhaupt noch einen Konsens finden?
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In der vierten Sitzung des Intergovernmental Negotiating Committee (INC-4), Anfang 2024 in Ottawa, das sich mit der Ausarbeitung eines globalen Abkommens zur Plastikverschmutzung beschäftigt, war auch The Ocean CleanUp aktiv beteiligt.
Das Team um den 30-jährigen Niederländer Boyan Slat hat sich für die Aufnahme von "Legacy Plastic CleanUp" – also die Entfernung von bereits in der Umwelt vorhandenen Plastikabfällen – in das Abkommen eingesetzt. Boyan Slat argumentiert (wie viele andere Umweltorganisationen übrigens auch), dass ein bloßes Stoppen neuer Verschmutzungen nicht ausreiche, da die bereits existierenden Müllmengen weiterhin massive Schäden anrichten würden. Und ein Stopp der Plastikproduktion oder eine signifikante Reduktion der Produktionsmengen ohnehin Utopie seien. Was nicht zuletzt durch bislang fünf ergebnislose UN-Treffen bestätigt wurde.
Ocean CleanUp – was daran besonders ist!
Ein 30-Jähriger führt ein Projekt an, das bei einer UN-Konferenz als maßgebend vorgestellt wird? Damit nicht genug – Slat startete sein Vorhaben bereits als 18-Jähriger im Jahr 2013, nachdem er als 16-Jähriger beim Tauchen vor Griechenland mehr Plastikmüll fand als Fische. Ein Erlebnis, das ihn prägen sollte.
Die Grundidee: Es geht um ein Sammelsystem, das autonom und mit möglichst wenig menschlicher Einflussnahme mitten auf den Ozeanen – wie im berühmt-berüchtigten Müllstrudel des nördlichen Pazifik – Plastikmüll einsammelt. Ab 2015 plante die Organisation Ocean CleanUp zudem ein Auffangsystem für Müll, der in besonders belasteten Flüssen Richtung Ozean oder Meer transportiert wird.
So weit zur Theorie. Nun zur Praxis, die von den mittlerweile 130 Mitarbeitern „auf die Beine“ gestellt wurde.
Ein junger Niederländer macht Nägel mit Köpfen
Slat und sein Team entwickelten an der Technischen Universität Delft das Konzept eines 50 km langen, v-förmigen Schlauchmodells, das an der Meeresoberfläche schwimmen sollte. Durch Gewichte am Boden sollten sie an ihrem Platz bleiben und 90 Prozent des schwimmenden Plastikmülls ab einer Größe von 20 mm sammeln. Argument: Durch Einsammeln des „groben“ Mülls kann dieser nicht mehr zu Mikroplastik zerfallen.
An der darauffolgenden Machbarkeitsstudie arbeiteten immerhin über 100 Forscher, die schließlich grünes Licht für das Projekt Ocean CleanUp gaben.
Im Juni 2016 ging ein erster, schlauchartiger Prototyp von 100 Metern Länge in der Nordsee in die Erprobung. Mit den gesammelten Erfahrungen wurden erste Designänderungen und technische Verbesserungen vorgenommen.
Zwei weitere, ähnliche Prototypen folgten, mit dem Erprobungsergebnis, dass keine feste Verankerung das System an einer Stelle festhalten, sondern das System mit Treibankern in Strömungen – etwas langsamer als das treibende Plastik – schwimmen sollte.
Zunächst enttäuschend
2018 wurde ein 600 m langes Müllauffangsystem in der Bucht von San Francisco gebaut und nach einer Erprobungsphase in den nordpazifischen Müllstrudel geschleppt. 2, 2 Tonnen Müll wurden von dem System in 2,5 Monaten aufgefangen – für das Ocean CleanUp-Team ein eher enttäuschendes Ergebnis. Für die Skeptiker (zu ihnen später mehr) eine gewisse Genugtuung.
Nach mehreren Tests mit unterschiedlich langen Prototypen, die vorwiegend die Treib-Geschwindigkeit und deren Anpassung an Strömungsverhältnisse zum Ziel hatten, wurde 2022 das System 02 (600 m lang) erneut im Nordpazifik ausgesetzt. Innerhalb von drei Monaten wurden 29 Tonnen Plastik aus dem Pazifik entfernt. Wichtigste Neuerung bei System 02: Für das Einfangen des Mülls wird nicht mehr abgebremst, um eine Geschwindigkeitsdifferenz zum treibenden Plastik zu erreichen, sondern leicht beschleunigt!
2023 wurde System 3 im Nordpazifik installiert: 2,2 km lang, mit 4 m nach unten hängenden Netzen und verbessertem Schutz für Fische und Wale, die sich in dem System verfangen könnten. Ein Jahr war das System mit einigen technisch bedingten „Aussetzern“ offenbar im Einsatz. Bei erwähnter UN-Konferenz in Ottawa gab Ocean CleanUp an, gesamt 350 Tonnen Plastik aus dem „Great Pacific Garbage Patch“ gefischt zu haben. Im Laufe des Jahres stieg die angegebene Menge auf 500 Tonnen.
Würde man beim derzeitigen Stand der Plastikmenge – würde es also keine weitere Müllzufuhr geben – mit der Ocean CleanUp-Methode den Plastikmüll aus den Ozeanen fischen, könnte man nach 10 Jahren den nordpazifischen Müllstrudel gesäubert haben, behauptet Boyan Slat.
Neidisch auf die Spenden?
Eine Vision, die von vielen Wissenschaftlern angezweifelt wird. Überhaupt polarisiert Ocean CleanUp unter Umweltschutzverbänden, Wissenschaftlern und Recycling-Forschern. Die einen vergöttern den jungen Umweltschützer nahezu, die anderen suchen permanent nach Argumenten, um ihm persönlich und Ocean CleanUp contra zu geben.
Da wäre zunächst die Finanzierung, die wohl auch für ein gewisses Neidpotential sorgt. Im September 2021, also mitten in frühen Testphasen von Ocean CleanUp, behauptete die New York Post: „Ocean CleanUp hat 8 Jahre und 51 Millionen US$ an Spenden benötigt, um ein System zu entwickeln, das im letzten Monat (dem Testmonat) 8,2 t Plastik aus dem Meer entfernt hat.“
Zwar war die Summe zu diesem frühen Zeitpunkt innerhalb der Testreihe als deutlich zu hoch angesetzt, der Aspekt „Spende“ entspricht jedoch der Realität. Denn Ocean CleanUp hat, nach heutigem Erkenntnisstand, keine Steuergelder für die Projektentwicklung und die Müllrückhaltesysteme erhalten oder verwendet.
Tatsächlich startete Ocean CleanUp 2013 mit einer Crowdfunding-Kampagne, die eine Machbarkeitsstudie finanzieren sollte. Das Ziel 90.000 Euro war in kürzester Zeit erreicht worden. 2014 wurden für die ersten Tests bereits zwei Millionen Euro gesammelt – bis 2019 waren ausschließlich über Crowdfunding und Spenden schon 30 Millionen Euro an Spendengeldern zusammengekommen. 2023 erhielt Ocean CleanUp von einem der Air B’NB-Gründer eine Spende in Höhe von 21 Millionen Euro. Boyan Slat: „Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden von Privatleuten und Unternehmen.“
Zudem sollen in Zukunft mehrere Produkte entwickelt werden, die ausschließlich aus recyceltem Ozean-Plastik bestehen – wie die Ocean CleanUp-Sonnenbrille, die als erstes Produkt dieser Art derzeit verkauft wird. Weitere Produkte sollen folgen.
Überhaupt das Recycling. Es ist schwierig, Kunststoff zu recyceln, der jahrelang im Wasser schwamm. Das Material ist halb aufgelöst, besteht meist aus mehreren unterschiedlichen Kunststoffschichten – dennoch wagen sich mittlerweile spezialisierte Recycling-Unternehmen an die Rückführung des Wertstoffes in den Wirtschaftskreislauf.
In den Flüssen – in die Ozeane
Ocean CleanUp hat sich neben seinem Engagement in den Ozeanen bereits früh auch mit den „Ursachen“ für die Verschmutzung beschäftigt. Hier sind sich Boyan Slat und sein Team sowie die ihn kritisierenden Wissenschaftler zumindest einig: Die größten Müllmengen werden über etwa 1.000 Flüsse mit Schwerpunkt in Indien, Asien und Afrika in die Ozeane und Meere geleitet.
Doch im Gegensatz zu den meisten seiner Kritiker hat auch hier Ocean CleanUp reagiert, statt nur diskutiert. In Partnerschaft mit dem Unternehmen Konecrans entwickelte das Ocean CleanUp-Team spezielle Barrieren für besonders verschmutzte Flüsse. Ein Dutzend dieser Barrieren ist derzeit im Einsatz, hinter denen bereits tausende Tonnen Plastikmüll von lokalen Unternehmen abgeschöpft wurden. Müll, der sonst in den Ozeanen gelandet wäre.
Ein neues Ökosystem im Müll?
Wissenschaftler haben festgestellt, dass Plastik im Meer nicht nur Schaden anrichtet, sondern auch Lebensraum für Mikroorganismen, Algen und Kleinstlebewesen bietet. Dieses sogenannte "Plastisphäre-Ökosystem" ist ein neues Habitat, das sich auf dem Müll entwickelt hat und von dem einige Organismen sogar abhängig sind.
Ocean CleanUp-Kritiker argumentieren, dass die Entfernung des Plastiks möglicherweise mehr Schaden anrichten könnte, als ihn im Ozean zu belassen. Sie ignorieren dabei jedoch die wissenschaftlich x-fach belegten schädlichen Auswirkungen auf die Meeresfauna und die maritime Nahrungskette, die letztlich bis zum Menschen reicht.
Weiterhin gibt es Bedenken hinsichtlich der Effektivität und Nachhaltigkeit der eingesetzten Technologien. Die Sammlung mehr oder weniger großer Müllmengen sei zwar medial beeindruckend, verdecke jedoch das Kernproblem – den kontinuierlichen Zustrom von Plastikmüll. Ohne präventive Maßnahmen könnte die Reinigung wie ein „Kampf gegen Windmühlen“ wirken. Dem stehen wiederum Bemühungen großer Organisationen wie der UN gegenüber, die über Jahre hinweg in endlos erscheinenden Konferenzen versuchen, die Plastikflut bereits in der Plastikproduktion einzudämmen. Eine Einigung konnte seit 2022 nicht erzielt werden – in der Zwischenzeit fließen Millionen Tonnen Plastikmüll in die Ozeane …
Müll raus oder drin lassen?
Die Diskussion um Ocean CleanUp wirft ein ethisches Dilemma auf: Soll der Müll entfernt werden, um die Meere, Strände, Ozeanfauna und die Nahrungskette zu entlasten? Oder sollte man ihn als Teil eines neuen marinen Ökosystems akzeptieren? Die Antwort ist komplex und hängt von der Perspektive ab.
Für Umweltaktivisten und Wissenschaftler, die die Gesundheit der Ozeane priorisieren, steht die Beseitigung des Plastiks im Vordergrund. Ohne diese Bemühungen könnte die Belastung durch Mikroplastik weiter zunehmen, mit potenziell verheerenden Folgen für die gesamte Nahrungskette.
Allerdings argumentieren Ökologen, dass die Plastisphäre nicht ignoriert werden darf. Das Leben, das sich auf dem Müll entwickelt hat, zeigt die erstaunliche Anpassungsfähigkeit der Natur. Ein überstürztes Entfernen könnte wiederum negative Folgen für diese neuen Organismen haben, deren Funktion in den Meeresökosystemen bisher nicht vollständig verstanden ist.
Weniger Müll – egal wie!
Die Antwort auf die Frage, ob der Plastikmüll entfernt oder erhalten werden soll, findet sich wahrscheinlich in einer Balance. Technologien wie die von Ocean CleanUp sind essenziell, um die Menge an Plastik in den Meeren zu reduzieren. Der bis heute nahezu ungebremste Strom immer wieder neuen Plastikmülls muss extrem reduziert werden. Gleichzeitig sollte ein Verständnis für die ökologischen Auswirkungen entwickelt werden.
Der Müll muss weniger werden – sowohl durch Säuberungsmaßnahmen als auch durch Prävention an der Quelle. Gleichzeitig sollten Wissenschaftler die Auswirkungen auf die Plastisphäre erforschen – letztlich dürfte es für diese Erforschung noch ausreichend Plastikmüll geben, der in den Ozeanen zurückbleiben wird.
Nur das Bündeln ALLER Maßnahmen wird zum Erfolg in Form annähernd sauberer Ozeane führen. Es sollte die alte Vernunftregel gelten: Miteinander, statt gegeneinander!