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Seekrankheit, so ein Übel

Seekrankheit ist seit Jahrtausenden die Geißel der Seefahrer

Seekrankheit, so ein Übel
© Michael Kunst

Es ist zum Erbrechen – Seekrankheit ist seit Jahrtausenden die Geißel der Seefahrer. Selbst heute, da Millionen Menschen beruflich und in ihrer Freizeit weltweit auf den Weltmeeren unterwegs sind, gibt es dagegen noch kein wissenschaftlich anerkanntes Heilmittel. Aber einige „sauer verdiente“ Tipps.

Von Michael Kunst, veröffentlicht am 07.12.2022

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Es kann wirklich (fast) jeden treffen: Den Novizen, der erstmals bei einer Kaffeeausfahrt rüber zur Insel dabei ist oder die Einhand-Weltumseglerin, die schon drei Mal rundum schipperte, den ausgebufften Regattachamp draußen auf der Förde genauso wie den alten Salzbuckel, der eigentlich nur mal schnell einen Feierabendschlag rüber zur Kneipe am anderen Ufer macht.

Die Symptome der Seekrankheit reichen vom leichten Unwohlsein bei schwacher Müdigkeit bis zu tagelangem Erbrechen, Karussell-Schwindel und Suizidgefahr. Jeder, den es schon ein Mal richtig „übel erwischt“ hat, wird ein altes Seefahrer-Sprichwort bestätigen: „Zunächst hat man Angst, dass man stirbt; später, dass man nicht stirbt!"

Blick zum Horizont

Abgesehen davon, dass die Seefahrer früher ihre Götter für das Malheur verantwortlich machten, so war schon im Mittelalter der Sehsinn als Übeltäter ausgemacht. Was wiederum leicht nachvollziehbar ist: Auch heute noch gilt der Blick zum stabilen Horizont auf hoher See für viele Menschen als effektive Hilfe bei ersten Symptomen. Seekrankheit muss also logischerweise, was mit dem Sehsinn zu tun haben, oder?

Interessanterweise können aber auch Blinde seekrank werden – Taubstumme mit einem defekten Gleichgewichtsorgan jedoch nicht. Erstaunlich, dass etwa auch Fische Symptome von Seekrankheit aufweisen, wenn man ein durchsichtiges Aquarium dreht und wendet.

Bleiben wir noch ein wenig in der Tierwelt: Die "Allesfresser" Schweine und bestimmte Raubtiere, die auch Aas nicht verschmähen, werden niemals seekrank. Und Versuche mit Ratten haben ergeben, dass sie zwar seekrank werden, sich aber sehr rasch davon wieder erholen. Da muss also noch etwas anderes als der „Sehsinn“ seine fatale Rolle spielen.

Das Gleichgewicht?

Tatsächlich haben britische Wissenschaftler inzwischen bewiesen, dass der oben erwähnte Fall vom Taubstummen mit defektem Innenohr Fakt ist. Jeder, der im Seegang runter in die Kajüte muss, kennt das: Die Lymphflüssigkeit im Innenohr reagiert auf die Schiffsbewegungen und meldet dem Hirn die entsprechenden Bewegungen. Gleichzeitig senden die Sehsinne allerdings „kein Schwanken“. Fazit für das Hirn: Chaos, nix stimmt mehr. Wenn das Innenohr defekt ist, wird nur eine Art der Information an das Hirn weitergeleitet. Warum kann aber der Langstreckensegler spätestens nach drei Tagen genau das gleiche Info-Chaos aushalten, ohne dabei seekrank zu werden?

Suchen wir uns einen „Roten Faden“, indem wir einige „Geheimtipps“ gegen die Seekrankheit auflisten:

  • Schon im Altertum (und auf einigen Fährstrecken noch heute) teilten griechische Seefahrer ihren Passagieren Zitronen aus.
  • Die britische Marine schwört seit Jahrhunderten auf den Einsatz von frischem Ingwer.
  • Bei vielen Seefahrern aus dem Mittelmeerraum war Rotwein verpönt.
  • In der Südsee werden seit Tausend Jahren bei langen Seefahrten Unmengen Mangos gegessen.
  • Schlafen bringt verlässliche Linderung.
  • Eine aufgrund hoher Fallzahlen sehr glaubwürdige britische Seekrankheits-Studie, die während einer Weltumseglungsregatta für Amateure an 223 Probanden durchgeführt wurde, ergab eine besonders hohe Effizienz durch die Mittel Cinnarizine und Hyoscine (Pflaster).

Vitamin C? So simpel?

Für den österreichischen Arzt Reinhard Jarisch haben diese Beispiele alle einen gemeinsamen Nenner: Histamin.
Als Gewebshormon und Botenstoff des Nervensystems ist Histamin auch für allergische Reaktionen im Körper verantwortlich. Und für Seekrankheit?
Jedenfalls konnte Jarisch schon vor Jahren wissenschaftlich beweisen, dass Seekrankheit mit einem dramatisch ansteigenden Histamin-Spiegel einhergeht. Gleichzeitig wirken alle o.g. Mittel als Histamin-Killer: Vitamin C in hohen Dosen (Zitrone, Mango, Ingwer) ist Histamin-Feind No.1, gefolgt vom Schlaf (bei dem Histamin vollständig abgebaut wird) bis zu Cinnarizine und Hyoscine. Das Rotwein-Gelage am Abend vor dem Ablegen oder auf Fahrt baut überproportional viel Histamin auf, ebenso einige Nahrungsmittel.
Das ist übrigens der Grund, warum Schweine nicht seekrank werden: Sie können Histamin abbauen. Und die Ratte entwickelt gar als einziges Tier eigenes Vitamin C zum raschen Histaminabbau.

Wissenschaftlich anerkannt? Jein!

Leider scheiterte Jarisch in einem wissenschaftlichen Versuch mit 70 Probanden an statistischen Werten. Zwar fühlten sich eindeutig mehr Versuchsseefahrer unter Vitamin C besser, aber nicht genug: Lediglich drei Personen mehr, und der wissenschaftliche Beweis wäre erbracht gewesen.
Entsprechend ist nach heutigem Wissensstand im Kampf gegen die Seekrankheit eine Mischung aus „alten Rezepten“ und möglichst hohen Vitamin-C-Dosen der Weisheit (vorläufig) letzter Schluss.

  • Aufbau eines hohen Vitamin-C-Spiegels, vor und während des Törns (vorzugsweise Lutschtabletten, wegen besserer Vitamin-Aufnahme)
  • Vermeidung von histaminreichen Nahrungsmitteln wie Thunfisch, Makrele, Sardelle, Emmentaler, Camembert, Roquefort, Salami, Schinken, Sauerkraut und Rotwein. (siehe: Seekrankheit, das böse Histamin)
  • Weiterer Einsatz guter alter „Bordmittel“ wie etwa Rudergehen bei auftretenden Symptomen oder Schlafen. Auch eine Kombination aus Vitamin C und herkömmlichen Seekrankheitsmitteln wie Cinnarizine und Hyoszine wäre möglich.

Und wenn doch nichts hilft? Vorbeugen! Möglichst über die Reling …

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VG